Woher kommt das aufregende Gefühl des Kletterers am Einstieg, der erregende Zustand absoluter Konzentration während der Tour, vergleichbar mit dem eines Violinvirtuosen während seines Konzertes? Wie erklärt es sich, dass beide danach süchtig werden? In manchen amerikanischen Eliteschulen ist das Erlernen eines Streichinstrumentes obligatorisch, seit nachgewiesen wurde, dass die hier in Erscheinung tretende spezifische Komplexität mentaler und technischer Anforderungen in besonderer Weise die Koordination der beiden Gehirnhälften beeinflusst und zum Erwerb ungewöhnlicher Denkmuster beiträgt. Einen ähnlichen Effekt sagt man dem Klettern nach. Ständige Stimulation von Kreislauf, Muskelaufbau, Elastizität und Gleichgewichtssinn lassen den Alterungsprozess erheblich verlangsamen. In mentaler Hinsicht besteht ein direkter Bezug zwischen dem Erwerb neuer Bewegungsformen, den sogenannten Engrammen, und der Erweiterung des neuronalen Archivs von Kreativitätsrezepturen. Jeder Klettermeter bietet neben den körperlichen Aufgabenstellungen ständig neue Rätsel für Kopf und Bauch, meist gleich mit einer ganzen Reihe von möglichen Lösungen. Es liegt in der Natur des gesunden Menschen, Rätsel lösen zu wollen und dabei Spaß zu haben.
Dehnt der Kletterer sein Spektrum vom Klettergarten auf den alpinen Bereich aus, so können gesteigerte Erfordernisse und Erlebnisinhalte die oben beschriebenen Prozesse noch intensivieren: Erkunden und Erschließen einer abgelegenen Bigwall-Route ohne Unterstützung von außen. Oftmaliges Auf-sich-nehmen großer körperlicher Anstrengung und psychischer Belastung. Serien von Rückschlägen gefolgt von hoffnungsvollen Wiederaufnahmen des Projekts mit neuen Strategien, manchmal über lange Zeiträume hinweg. Nach diesem Feuerwerk emotionaler Jahreszeitenwechsel endlich tiefe Freude und Befriedigung über eine neu aufgeschlagene Seite im Abenteuerroman des Lebens. Diese Szenarien verdichten die vom Sportklettern angebotenen Lernprozesse auf dramatische Weise, projizieren sie auf eine ganzheitliche Ebene und erlauben ein Wiederaufkeimen der seit den Anfängen menschlicher Zivilisation zunehmend verschütteten Bedürfnisse und Instinkte.
Wir vergleichen den Kontakt mit dem Fels gerne mit dem Berühren einer Skulptur. Die Natur offenbart sich dem Kletterer als genialster Bildhauer in unendlichen Formenvarianten jeder Dimension. Genau hier ist die Nahtstelle zur Kunst zu finden: Der Kletterer hat die einzigartige Chance, auf einem perfekten Instrument Ideenreichtum, Geschick und Durchhaltevermögen zu proben, seine mentalen und physischen Grenzen ständig vor sich herzuschieben und so auf eine immer klarere Spur seiner selbst zu stoßen.