Himbeerstein, 1222 m. SO-Pfeiler „Schwangerer Himbär“ 5-, eine Stelle 6 (4+ A0)
Letzte Begehung?
Ennstaler Alpen, Gesäuse, Johnsbach, Steiermark. Zustieg 200 Hm + 9 Seillängen (200 Hm) + Ausstiegsgrat (200 Hm, 2-3). Ausnahmsweise keine detaillierte Beschreibung …
Am Himbeerstein wird wegen der Vögel auf das Klettern verzichtet.
Dieser Hinweis findet sich auf einer der vielen Informationstafeln im Nationalpark Gesäuse, einer der großartigsten Schluchtlandschaften Europas, nein, der ganzen Welt. Mit der Planung und Durchführung sinnhafter Maßnahmen zur Bewahrung dieses einzigartigen Schutzgebietes ist den Verantwortlichen erstklassige Arbeit gelungen. Dem internationalen Trend folgend – anstatt übertriebener Aussperrung des Menschen hin zu sensibler Lenkung der Besucher – wurden großteils wirklich kompetente Lösungen gefunden. Etwa bei der Johnsbacher Brücke: Der interessierte Besucher vermag einerseits tief in das komplexe Ökosystem hineinzuschnuppern, zur Vermeidung irreversibler Schäden sind aber auch klare und für jedermann akzeptierbare Grenzen gezogen.
Vor Jahrzehnten sind in Erichs Sturm- und Drangzeit an den stark gegliederten Südabstürzen des Himbeersteines, des nördlichen Bollwerks am Gesäuse-Eingang, vier Erstbegehungen gelungen. Nach der Sanierung der Standplätze in der NO-Wand des Nordöstl. Peternschartenkopfes (Poppinger/Pfiel) im Jahr 1997, haben wir uns zur sanften Sanierung einer dieser Geheimtouren entschlossen, unsere Wahl fiel auf den Schwangeren Himbär am SO-Pfeiler. In diesen Jahren konnten wir erste freundschaftliche Kontakte zu Ennstaler Kletterern knüpfen, allen voran Sepp Gstöttenmayr, dem Haupterschließer der zahlreichen Klettergärten am Unterlauf der Enns (hier ein Leckerbissen aus seinem alpinen Schaffen: der Großraminger Kirtag an der Planspitze). Von diesen einheimischen Kletterern erfuhren wir auch, dass die Jägerschaft seit je her ein strenges Auge auf das Gebiet um den Himbeerstein geworfen hat; schon so manche prominente Spitzenkletterer seien noch vor Durchführung ihrer Projekte aus dem Gebiet komplimentiert worden. Glück gehabt, dachten wir, weil wir offenbar in der abgelegeneren SO-Seite nie unangenehm aufgefallen waren. Dennoch sahen wir in der Folge von einer Veröffentlichung der Tour ab.
Bei unserm letzten Besuch im Gesäuse sind wir auf das einleitende Zitat gestoßen und haben uns spontan dazu entschlossen, bei einer letzten Begehung die Kassette mit dem Routenbuch zu entfernen. Wir wollen ja nicht ständig aus der Reihe tanzen, schon gar nicht in einem so großen Kontext wie dem eines Nationalparks. Während der Kletterei wurden längst verschüttete Erinnerungen wach, außer unseren Namen fand sich nur ein weiterer im Routenbuch: der Halbmond-Wirt aus Waidhofen an der Ybbs, Alfred Zacharias, der uns viel zu früh am Hochturm (Haller Mauern) verlassen hat. Vögel haben wir keine gesehen, dafür Hunderte Schmetterlinge. Auf dem Gipfel – mit der schweren Eisenkassette im Sack – entdeckten wir dann zu unserer Verblüffung einen frisch gegrabenen, mit roten Punkten versehenen, bequemen Weg, der am NO-Kamm über den Stiegenkogel bis hinunter zur Forststraße bei der Lauferbauernalm führt; mit eigener Abzweigung zu einem bildschönen Hochstand. So ein neuer, hübsch angelegter Jagdsteig im Nationalpark ist natürlich nicht mit dem schon massiveren Eingriff eines privaten Quadbiketrails im Nationalpark Hohe Tauern oder gar eines Pipelinebaues im Limfjord-Schutzgebiet in Kroatien zu vergleichen, er würde sogar von einer großen Mehrheit begeistert begrüßt werden; genauso wie die Revitalisierung des uralten Jagdsteigenetzes auf der SO-Seite des Berges. Offenbar gelten aber auch bei uns gemeinsam beschlossene Spielregeln nicht unbedingt für alle.
Wir bitten dennoch schweren Herzens, die Finger vom Schwangeren Himbär zu lassen, deshalb auch keine Zustiegsbeschreibung und kein Topo. Die Route ist in den anspruchsvolleren Passagen mit insgesamt 20 Bohrhaken alpin abgesichert, dazwischen muss man sich aber immer noch in grasige Schrofen retten, und das liegt heutzutage nicht einmal in einem Nationalpark im Trend. Die Aussicht auf die gewaltigen Wandfluchten können sich Gesäusekenner unschwer vorstellen, besonders im Frühjahr und im Herbst war die Tour aufgrund der niedrigen Lage eine brauchbare Alternative zu den benachbarten großen Wänden. Sollten sich die Parameter am Himbeerstein jemals ändern und alle Menschen eines Sinnes werden, dann versprechen wir, aus dem Schwangeren Himbär mit ein paar Streicheleinheiten eine wirklich tolle Tour zu machen …
(07.08.2009)