Gr. Ödstein, 2335 m. NW-Kante, 5
Begehrte Himmelsleiter über der schäumenden Enns.
Gesäuse, Johnsbachtal, Steiermark. Zustieg 1000 Hm + ca. 25 Seillängen (700 Hm).
P Brücke Johnsbachtalstraße B635, 2 km südl. der Abzweigung der Gesäuse-Bundesstraße zw. Admont und Gstatterboden - Mitterriegelsteig - Ödsteinkar - NW-Kante - Abst. Normalweg (Kletterei bis 2+) über Kl. Ödstein und Kirchengrat nach Johnsbach.
Schönster und am gewaltigsten erscheinender Gipfel der Ennstaler Alpen. Diese Bezeichnung aus dem alten Gesäuse-Führer von Heß–Pichl scheint nicht übertrieben, von welcher Seite man sich dem Koloss auch nähert. Ein Magnet auch über die Landesgrenzen hinaus: Führer bei der ersten touristischen Ersteigung vor genau 130 Jahren war niemand geringerer als Johann Grill (Kederbacher) aus Berchtesgaden, der 4 Jahre später die legendäre Watzmann Ostwand als Erster durchstieg. Das internationale Gerangel um Erstbegehungen und elegante Varianten an diesem Berg war schon damals nicht zu übersehen.
Die Ödsteinkante hat seit jeher ihren speziellen Nimbus und wird ihn immer behalten. Wenn heute der Zustieg teilweise markiert ist und die Stände gebohrt sind, wird das die Zuwachsrate am Johnsbacher Bergsteigerfriedhof sicherlich drosseln, die Tour bleibt dennoch ernst genug, man kann in ihr nach wie vor seine Wunder erleben – im positiven wie im fordernden Sinn. Seinem Instinkt vertrauen und sich nicht bedingungslos ans Topo klammern - das steigert hier nicht nur die Qualität des Erlebens, an manchen Stellen ist es eindeutig die zielführendste Strategie, um an dieser gewaltigen Kante weiterzukommen.
Schon gleich zu Beginn kann man sich in der Vielzahl potentieller Einstiegsrisse so verfransen, dass man sich Stunden später angesichts der verbleibenden Felsmeter und in Vorahnung einer Verkettung weiterer Abenteuer zum Rückzug genötigt sieht – Erich kann sich noch an solch eine Tragödie erinnern, ein Rückzugskeil hängt noch heute in der Gegend rum. 15 Jahre später klimmen wir parallel in zwei benachbarten Rinnen hoch und lächeln uns schließlich am Einstieg zu „The Beauty and the Beast“ verblüfft (aber voller Zuneigung) an. Beim Abstieg finden wir den Einstiegs-Standhaken dann doch noch (in der Rinne, nicht am Bergkörper!). Weil die Tour „eh nicht so schwer ist“, sind wir in Bergschuhen unterwegs, trotzdem erscheint in Anbetracht der Felsqualität durchgehende Seilsicherung nicht verkehrt, auch nicht in den „leichten“ 1-2er Seillängen des unteren Kantenteils. Das Topo in der Xeis-Auslese unterschlägt uns hier mindestens eine SL, das Schall-Topo ist besser. Bei der Linksquerung in die Flanke unter der großen Terrasse kann man nicht vorsichtig genug sein, die paar alten Haken werden einem möglichen Megascratch-Pendler keinen nennenswerten Widerstand leisten. Ein Gebohrter hätte hier nicht weh getan, wenn man an die Statistik denkt. Und die Bohrmaschine schon dabei hatte.
Die zahlreichen Normalhaken in der 1. Schlüsselseillänge sind hingegen gut in Schuss, auch der Fels ist super. Gleich darüber haben wir uns für den Redlich-Stefansky-Überhang entschieden. Nach der Linksquerung ermöglicht der einzige gebohrte Zwischenhaken der Tour für Erich den sicheren Rückzug zum Stand. Er sieht sich die paar fehlenden, senkrechten Meter zum nächsten Normalhaken am oberen Ende des Wandls an, die Bergschuhe, eine fehlende (ausgebrochene?) kleine Schuppe ... soviel zum 5. Grad. – Alternativ klettern wir vom Stand weg die direkte Verschneidungs-Variante, sie ist heute nicht übermäßig nass, aber trotzdem total „klassisch“.
Weiter oben gehts wieder gemütlicher zu, mit etwas Glück findet man in der breiten Kaminrampe die Standhaken. Wieder fehlt in den Topos eine Seillänge, wie oben gesagt, man sollte sich nicht von den dargestellten Verhauermöglichkeiten blenden lassen, auch nicht von der letzten breiten Rampe nach rechts, sondern in gleicher Richtung weiterklettern, bis man bei einem relativ neuen Normalhaken ansteht. Jetzt entweder gerade steil empor oder leicht absteigend die schmale Rippe in den Tobel dahinter queren und den folgenden Kamin hinauf. Bald wird‘s lichter und man betritt über weite Schutt- und Schrofenhänge endlich die flachere obere Kante. Eine ziemlich knackige „3er“-Stelle ziehen wir uns noch hinauf, dann schmeißen wir den Rucksack neben die rote Markierung des Normalwegs und laufen zum Gipfelkreuz.
Der Abstieg von diesem Berg ist eine Tour für sich, wie man’s auch dreht und wendet. Wenn dich auch noch keiner mitnimmt hinaus zum Auto im Gseng, dann kanns schon finster werden. Wie schreibt Kurt Schall: Im Gesamten ein großes und eindrucksvolles Abenteuer ...
Literatur: Schall/Grabner: Genuss-Kletteratlas Österreich Ost, Band 2 Steiermark. Wien: Schall.
Reinmüller/Hollinger/Mikofei: Xeis-Auslese. Alpiner Rettungsdienst Gesäuse.
Stocker, Longlines - die ganz großen Klettereien der Nördlichen Kalkalpen. Panico, Köngen 2014.