Rote Spitze, 2956 m
Sanfte Kare und raue Grate am zweithöchsten Villgratner.
Villgratner Berge, St. Jakob in Defereggen, Osttirol. Aufstieg 1700 Hm.
P Brunnalmbahn osö. von St. Jakob - Brugger Alm - Ragötzlalm - Wangeslenke - W-Grat.
Weiße und Rote Spitze, die zwei höchsten Zinnen der Villgratner Berge, haben bis heute eine je nach Talschaft kontroverse Namensgebung inne. Auf den Karten (und bei uns) hat sich die Südfraktion, also die Bewohner des Villgratentals durchgesetzt; von hier sind die beiden Gipfel auch um 400 Hm billiger zu haben - s. auch unsere winterliche Besteigung der Weißen Spitze von der Oberstalleralm aus. Die Leute im Defereggental hingegen bestehen traditionsgemäß auf vertauschte Vorzeichen. Was früher kaum jemand gekümmert hat, entpuppt sich heutzutage als eine Art Tourismusgag. Besonders deutsche Bergsteiger amüsieren sich am Gipfel köstlich über die zwei divergenten Bergnamen an ein und demselben Kreuz.
Eigentlich sollte dieser Bericht im Archiv Klettern landen: Auf den langen Nordgrat sind wir im neuen Gebietsführer von Manfred Poleschinski aufmerksam geworden, wo er eine gute Gesamtnote erhält.
Wir haben leider einen eher feuchten Tag erwischt, was allein den Zustieg schon besonders macht. Die sehr steilen, meist pfadlosen Alpenrosen- und Grashänge führen etwas mühsam, dafür aber ziemlich direkt und flott hinauf zum Gratansatz; bis hierher hätten wir uns Neoprenanzüge gewünscht. Der Steilaufschwung zu Beginn des 2. Drittels zeigt gleich mehrere Schrägrisse von rechts unten nach links oben - eher im vierten Grad als im zweiten - was uns angesichts der schattseitigen Feuchtigkeit vom Grat treibt. Von hier kann man noch relativ problemlos durchs begleitende Kar hinauf zur Wangeslenke mit dem markierten Steig gelangen.
Manfreds akribischer, mit Liebe zusammengetragener Führer kann selbst für Gebietskenner eine Fundgrube sein. Allerdings zählen wir den „Tauernfuchs“ aufgrund seiner zahllosen, unfallfreien Alleingänge an allen möglichen (und unmöglichen) Urgesteinsgraten zu den Bergsteigern der Alten Schule. Das bedeutet, dass seine Sichtweise von und seine Bewegungsmuster in speziellem Gelände sich nicht immer mit jener moderner Sportkletterer decken müssen. Was die Möglichkeit zu Überraschungen in Bezug auf Bewertung und Gangbarkeit - ähnlich bei manchen alten AV-Führerbeschreibungen - nicht ausschließt.
Wenn also schon zu Beginn am markierten Steig von der Brugger Alm Richtung Ragötzlalm die Schuhe nass geschlampt sind, Friends oder Keile im Auto liegen und sich die Abenteuerlust ausnahmsweise in Grenzen hält, dann kann man getrost am Normalweg bleiben - er ist schön genug.
Eine Linkliste zu weiteren Deferegger Touren findet ihr im Anhang unseres Almerhorn-Berichts.
Literatur: Zahel: Osttirol. München: Rother Wanderbuch.
Poleschinski: Villgratner Berge - Deferegger Alpen. Gebietsführer für Bergsteiger, Kletterer und Wanderer. Bad Ischl: Poleschinski 2016, ISBN 978-3-200-04464-7.