Sarchetal
Alpine Streifzüge durch einen sonnennahen Kletterplaneten.
Gardaseeberge, Trentino, Italien.
Das Kletterangebot nördlich von Arco ist beinahe unüberschaubar geworden, fantastischer Fels in Klettergärten als auch in Bigwalls, ein unerschöpflicher Fundus an alten, vergessenen Klassikern, ein ebensolches Potenzial für Neutouren, welches auch laufend genutzt wird. Das alles in mediterranem Ambiente ganzjährig kletterbar - so was gibt’s bei uns im Norden einfach nicht.
Unsere Aufenthalte in diesem Kletterparadies sind ungezählt, manchmal haben wir konsequent jeden Wintermonat eine Woche dort verbracht und die Leidenschaft der berühmten Erschließer für dieses einmalige Gebiet verstehen gelernt. Im Folgenden ein kurzer Fotostreifzug durch eine Reihe von Mehrseillängen-Touren von Norden nach Süden, von Sarche über Pietramurata nach Arco.
Gleich zu Beginn schon ein Knalleffekt: der Picol Dain schaut keinesfalls wie ein kleiner Zahn aus. Seine Südwand über der rauschenden Sarca, die Parete del Limaro, wird von einer wilden Verschneidung durchzogen, die 1957 von der Seilschaft Maestri–Baldessari unter großem Medienrummel durchstiegen wurde (6+ A0). Neben einem halben Dutzend teils wirklich brüchiger Alpin- und Efeutouren gibt’s hier neuerdings auch zwei Plaisierkletterrouten mit je 10 SL – Amazonia, 6, und Orizzonti Dolomitici, 5+. Durch die Ostwand führt übrigens einer der schwierigsten Klettersteige der Dolomiten, die Via ferrata Rino Pisetta, erbaut 1982 über eine alte 5er-Tour, ohne Tritthilfen. Die nette Bohrhaken-Neutour Pilastro Massud, 6b A0 (6a obb., Galvagni, Filippi, 2003) zieht links davon durch die beeindruckende Wandflucht und mündet hoch oben in die Ferrata. War Anfang März 2005 im oberen Teil noch etwas bröslig, ist heute aber sicher schon gut ausgeräumt; nach oben hin immer enger gebohrt.
Weiter links geht’s gleich viel ernster zur Sache – die berühmte Direttissima Loss, 8 (6+ A1), mit ihrer gelben Verschneidung ist ein Leckerbissen für alpine Abenteurer (alte Holzkeile und Sticht-Bohrstifte).
Auch die konkave 1200-m-Wand des Monte Casale spielt alle Stücke. Schon wieder ein berühmter Klettersteig (Che Guevara) und ein Menge toller Routen aller Längen und Schwierigkeitsgrade. –
Gleich danach passiert man Pietramurata, ein Straßendorf mit der empfehlenswerten Pizzeria Guaita auf der linken Seite, das Klettergeschäft ist nach Sarche übersiedelt. Rechterhand eine Wandflucht neben und über der anderen. Pian della Paia – die Stadelwand des Sarchetales: oben ein kleines nettes Wiesenplateau, nach O und S Felswände vom Feinsten, nämlich der Mehrseillängenklettergarten Il Transatlantico, die Parete Gandhi (z. B. Nikotina, 6c+, 6a obb.) und die S-Wand Il Dain, die wieder mit dem ganzen Spektrum aufwartet, etwa von Cesare Levis („Manoloverschneidung“), wo man sich leider nur am Einstieg des Schrofenvorbaues über gebohrte Standhaken freuen darf, bis zur bestens abgesicherten Genoma, in der Adrenalinstöße ausnahmslos durch die schönen Züge ausgelöst werden (bis auf 4 neue NH ausschließlich BH!). Der Abstieg auf der Rückseite ist eine entspannende Wanderung.
Am darauf folgenden Massiv des Monte Brento findet sich der größte Überhang der Alpen – Hotspot für Basejumper, Spitzenkletterer oder Technofreaks mit Freude am anhaltenden Abenteuer. Nur ein bescheidener Sockel dieser Bigwall ist die beliebte Sonnenplatte (Parete Zebrata) – Dutzende schöner Bohrhakenrouten mit bis zu 16 SL. In den letzten Jahren wurde auch der rechte Wandteil geputzt und mit etlichen erfreulichen Routen bereichert.
Wo die Wand im rechten Winkel umbiegt, an der Pala delle Lastiele, gibt’s gleich zu Beginn die neue Via Emodialisi, 7 (6+ A0) aus dem Jahr 2005, wo wir die fünfte (erste non-local) Begehung verbuchen konnten. Ein Blick ins Neutourenbuch der Bar Zebrata bei der Tankstelle lohnt sich also auf alle Fälle. Drei Touren weiter rechts konnten wir im Lauf der Jahre zahlreiche Rückzüge beobachten: Die verlockende Linie der Isola di Nagual, 6, schien mit einem Fluch behaftet zu sein. Mitte Dezember 2004 wollen wir‘s endlich wissen und finden uns in einer großartigen Alpinroute in teilweise bedenklichem Zustand wieder. Das prekäre Haken- und Schlingenmaterial in der 2. SL hat uns noch nicht gebremst, am Verlauf der 3. und 4. SL (Führerfoto?) haben wir heute noch Zweifel. Am 4. Stand jedenfalls sind wir wieder richtig, wie eine gemütliche Gartenoase hängt er in der Wand und salbt unser angespanntes Nervenkostüm. Die 5. SL ist sehr schön, erfordert aber entschlossenes Zupacken. 6. SL genüsslich einfach. 7. SL (diedro stupendo!) anhaltend zäh, 7. Stand elendig. Die A0-Stelle in der 8. SL ist nicht mehr A0 zu machen, da offenbar eine kleine Schuppe samt Haken ausgebrochen ist; bei dieser Standqualität haben wir uns nicht mehr weitergetraut. Jetzt wissen wir’s. Unseren Plan zur Sanierung der gefährlichsten Punkte dieser tollen Tour haben wir wieder fallengelassen – die Locals sind eh so emsig bei der Sache, vielleicht wollen sie’s einfach so ...
Unweit südlich wölbt sich an der Cima alle Coste das Gegenstück zur Sonnenplatte auf – Lo Scudo. Wieder ein Plattensockel am Fuß einer höchst alpinen Wand, noch vergleichsweise sehr einsam. Beim Zustieg nicht zu früh rechts ab ins Gelände, sondern erst den Pfad kurz vor dem kleinen Waldsattel benutzen! Ummagumma ist eine großteils schöne Tour, im Vergleich etwa zur Genoma aber viel alpiner, zwar BH, aber viele lange Runouts, auch im schweren Gelände. Nach oben zu immer weniger Haken, beträchtliche Stürze möglich (Stand März 2005).
Schöne talnahe Routen gibt’s auch im Bereich Coste dell‘ Anglone und Parete San Paolo.
Zum Abschluss unseres Streifzugs kommen wir zu einer unserer absoluten Lieblingsecken hoch über dem Trubel von Arco – dem kleine Ortsteil Laghel. Für den bescheidenen Hunger sind die gut 20 Touren am Monte Colt perfekt: 3 bis 5 SL, gut abgesichert, eine spektakulärer als die andere, teilweise mit liebevoll emaillierten Einstiegstafeln.
Parallel dazu, eine Faltung weiter westlich, potenzieren sich Anforderungen und Genüsse an der langgestreckten Mandreawand, hier allerdings bis zu 16 SL. Diese Routen sind wirklich eine Reise wert.
Zur Bereicherung des Repertoires in den Wintermonaten zuletzt noch ein Schitouren-Abstecher auf den Monte Altissimo di Nago.
Literatur: schwer überschaubar, alte Klassiker (setzen oft detailliertere Ortskenntnis voraus und führen in abenteuerlichste Situationen), viele kleinere, lokale Publikationen, hier eine Auswahl von Führern auch mit alpinen Touren.
Filippi: Pareti del Sarcha. Milano: Versante Sud 2002. Mit deutscher Übersetzung (etwas holprig), sehr ergibig!
Wagenhals & Freunde: Dolomiten vertikal, Band Süd. Leonberg: Loboedition 2005.
Meisl/Lochner: Arco. Klettern vom Gardasee bis zur Brenta. Sportkletterführer 2005.
Furlani: Arrampicate nelle Dolomiti. Verona: Cierre Editioni 2005. Italienisch, mit 10 längeren Alpintouren aus dem nördlichen Sarchetal.
Steinkötter: Arco- Sarchatal–Paganella. Terlan (BZ): SVS Alpina Verlag 1991. Uralt-Klassiker.
Hochinteressant ist auch das Tourenbuch im kleinen Cafe (Tankstelle) bei der Sonnenplatte (Parete zebrata), hier findet man Neutouren lange vor ihrer Veröffentlichung.