Kletterfelsen auf Sizilien, Update 2024.
Fast 1200 km Küstenlinie umschließen ein schier unermessliches Felspotential, genügend Seillängen für viele, viele Kletterurlaube. Sizilien hat sich zu einem Topgebiet gemausert, allein im Südosteck der Insel warten 3 Dutzend Klettergebiete. Im Norden, etwa im Stadtgebiet von Palermo, können sich Kletterer wochenlang beschäftigen.
Die seit einigen Jahren meistgenannte Adresse ist allerdings San Vito lo Capo nahe dem Westende der Insel. Diese besonders ansprechende Ecke - landschaftlich eher schon nordafrikanisch denn europäisch anmutend - lässt sich von Mitteleuropa aus leichter erreichen als man denkt: schnell und günstig mit dem Flugzeug über Trapani oder Palermo, mit der Fähre ab Genua, Livorno oder Neapel, falls man das eigene Auto dabei haben möchte. Die Infrastruktur ist längst auf Kletterer, Wanderer und Biker ausgerichtet. Eine ideale Basis bietet das Vier-Sterne-Camp El Bahira. Die ersten Sektoren befinden sich eine Minute hinter dem Platz, an der Küste rauf und runter kann man sich autofrei für Wochen die Finger lang ziehen. Zu Füßen der pittoresken Felshörner Monte Monaco, Monte Passo del Lupo und Monte Còfano wetteifern um die 50 Sektoren um die Spitzenplätze in puncto Felsqualität und Ästhetik der teilweise wirklich überwältigenden Linien. Ein Vergleich mit Kalymnos & Co. braucht nicht gescheut zu werden, die alternativen Zusatzangebote der näheren Umgebung (Palermo, Erice, Trapani, Egadische Inseln, Segesta, Selinunt etc.) sind reichhaltiger als auf der Dodekanesinsel.
Großen Anteil am Entstehen dieses großartigen Gebietes hatte übrigens das oberösterreichische Lehrerehepaar Maria und Sepp Gstöttenmayr aus dem Unteren Ennstal, das sich vor Ort bald einen legendären Ruf erworben hat. Sepp hat in seiner Heimat und am Peloponnes Hunderte von Routen eröffnet. Über mehr als ein Dezennium verbrachten die beiden Kletterer alljährlich zwei Monate in San Vito, Sepp bohrte beinahe täglich mindestens eine neue Route ein, Maria kümmerte sich um die Zustiege.
Im November 2016 haben wir unsere Italienumrundung für eine Woche hier unterbrochen, in den Folgejahren sind wir immer wieder gekommen. Der Spätherbst ist übrigens eine gute Zeit für Kletterer: das Meer noch angenehm warm, am Platz lang nicht so turbulent wie in den Sommermonaten und die Kosten etwa für ein behagliches Mobilehome (max. 4 Personen) nur ein knappes Drittel (ca. 300 €/Woche, Stand 2021) vom Hochsaisonpreis, wunderschöne Sonnenuntergänge inklusive. Von Maria und Sepp erhielten wir persönliche Einführung in die benachbarten Sektoren und durften uns sogar etliche Zweitbegehungen ihrer brandneuen Touren holen. Auch sämtliche Bohrhaken in unseren eigenen Routen vom Toten Gebirge bis in den Zentraliran stammen übrigens aus Sepps Hand, die Festigkeit liegt weit über jener von industriell gefertigten Produkten.
Im Lauf der Jahre bewegen sich die Dinge – wie überall, und oft nicht zum Besseren. Besitzverhältnisse ändern sich, die lokale Administration ist, gelinde gesagt, keinesfalls perfekter als bei uns zu Hause, die ahnungslose Politik vor Ort erkennt nicht den ungeheuren Schatz, welchen einige wenige hochmotivierte Idealisten mit ungeheurem körperlichem Aufwand und privaten Mitteln geschaffen haben. Daniele Arena, der Mann der ersten Stunde, der seine Heimat im Osten Siziliens vor vielen Jahren verlassen hat, um sich aus gutem Grund in San Vito lo Capo anzusiedeln, war lange Zeit die treibende Kraft vor Ort. Sein Klettershop war die Anlaufstelle und Infozentrale, er selbst hatte all die unzähligen Routen im Blick und sanierte etwa lose Bolts oder Umlenker zeitnah. Mittlerweile hat er seine einst hilfreichen Waffen gestreckt und ist abgewandert, zurück in seine ursprüngliche Heimat (wo es natürlich auch jede Menge Felsen gibt). Auch die Handvoll weiterer Erschließer-Legenden war nicht mehr anzutreffen, die Belle Époque eines Kletterparadieses schien an einem Wendepunkt angelangt zu sein. Schleichend begannen manche Routen zuzuwachsen, Schraubmuttern lösen sich, manch hochwertiger Edelstahlumlenker sitzt nicht mehr ganz fest – und niemand ist da, um sich darum zu kümmern. Dafür lungern am Campeingang allzeit drei Männer in Security-Shirts herum, schwer beschäftigt mit dem Handy - weil es für sie am Platz eigentlich nie etwas zu tun gab und gibt.
Aber lasst Euch aufgrund dieser betrüblichen Randbemerkungen nicht abschrecken, für Gebietsneulinge ist der Niedergang noch nicht spürbar. Die Rezeptionisten sind nach wie vor freundlich, die Frühstückshörnchen frisch wie eh und je, die Pizzeria am Platz öffnet mittlerweile an jedem Tag der Woche, nicht nur mittwochs und samstags. Auch die Prominenz hat San Vito noch nicht vergessen: Im Herbst 2022 haben wir im relativ entlegenen Sektor Irenes Garden unseren Blind Climber Andy Holzer aus Osttirol mit Freunden getroffen.
Und im November 2024 plötzlich wieder ein Lichtblick: Die Gstöttenmayrs sind zurück - samt Bohrmaschine und Bolts. Noch ist nichts verloren!
In unserer Bilderfolge streifen wir eingangs ein paar mittelitalienische Klettergärten - für jene, die auf dem Landweg anreisen. Am ausführlichsten werden natürlich San Vito lo Capo und die benachbarten Orte Macari, Castelluzzo und Custonaci/Scurati behandelt, die gleichfalls im ausführlichen Oelze-Röker-Führer beschrieben sind (s. Literatur).
Scopello im Südosten der Zingaro-Halbinsel, nicht weit von Castellammare del Golfo, liegt landschaftlich sehr reizvoll, die Zufahrt ist allerdings nicht asphaltiert und ruppig. 13 Routen 6a+ bis 7a+, etwas weitere Hakenabstände, Zustieg besonders im unteren Sektor oft extrem verwachsen. Beschreibung im Cappuccio-Gallo-Führer.
Stellvertretend für die fünf Dutzend weiteren sizilianischen Klettergebiete folgen zuletzt noch einige Aufnahmen von Rocca San Benedetto, Cava d'Ispica und Timpa Rossa/Rosolini nahe der Südküste.
Über die Suche („San Vito lo Capo“) bekommt ihr übrigens eine Auflistung aller möglichen Bergabenteuer zwischen Monte Monaco und Monte Còfano.
Literatur: Oelze/Röker: Sicily-Rock, Sport Climbing in San Vito lo Capo, Castelluzzo und Custonaci; deutsch-englisch-italienisch. Immenstadt: Gebro-Verlag, 7. Auflage 2020, ISBN 978-3-938680-40-7.
Gallo/Cappuccio: Di roccia di sole. Klettern auf Sizilien; deutsch. Mailand: Edizioni Versante Sud 2022, die Neuauflage bereits in 2 Bänden (Klettergärten und Multipitch).
Goedeke: Winterfluchten. Klettern in Südeuropa – 185 Mehrseillängenrouten. München: Bergverlag Rother Selection, 2011.
Links zu weiteren Wanderungen und Klettertouren in Italien (südlich der Alpen) im nature-classic-Bericht zum Corno Grande.