Gr. Degenhorn, 2946 m - Rote Spitze, 2956 m
Über die höchsten Villgratner Zinnen (bis 3+).
Villgratner Berge, Innervillgraten, Osttirol. Aufstieg Degenhorn 1100, Gratstrecke (gut 5 km) 1300 Hm, insgesamt 2400 Hm.
P Oberstaller Alm (knapp 10 km nnw. von Innervillgraten, zuletzt Mautstraße) – Arntal – Beim Garten – SW-Flanke Gr. Degenhorn – Abstieg W-Grat (III+) in die Östl. Storfenscharte – O-Grat (I) Storfenspitze – Abstieg W-Grat in die Westl. Storfenscharte – SO-Grat (III+) Weiße Spitze – Abstieg in die Schlötterlenke (Wassersaichlenke) – SO-Grat (II) Rote Spitze – W-Grat Wangeslenke – P.
Die höchste Kammstrecke der Villgratner Berge kratzt hart an die 3000er-Grenze und ragt majestätisch über eine beeindruckende Natur- und Kulturlandschaft. Die Überschreitung dieses wilden Gratzuges über die Weiße Spitze ist mit Abstand das anspruchsvollste Unternehmen unter den sieben Etappen über sämtliche Gipfel des Hauptkamms von Lienz nach Südtirol. Dieser Beitrag gehört technisch gesehen eigentlich ins Archiv Klettern – und doch auch wieder nicht, da die Mehrzahl der reinen Genusskletterer wenig Freude an der imposantesten Gratstrecke dieses Gebirges haben dürften. Sicherheitshalber möchten wir nicht mit allen Wassern gewaschene Allroundalpinisten schon zu Beginn auf den Normalanstieg zur Weißen Spitze ab Oberstaller Alm aufmerksam machen, auf dem man sich den potenziell problematischen Part erspart. Der Weiterweg am Grat zur Roten Spitze liegt dann wieder im Rahmen.
Der Führerautor Manfred Poleschinski, im Internet als Tauernfuchs bekannt, ist ein ausgesprochener Spezialist in Sachen langer Schrofengrate. Er hat nicht nur fast sämtliche Schneiden der Villgratner Berge begangen, sondern auch jene der Niederen Tauern und viele andere mehr, und das meist im Alleingang. Ein derartiger Erfahrungsschatz und solch ausgeprägtes Gespür für dieses oft brandgefährliche Gelände kann nicht generell vorausgesetzt werden. Wir haben die Tour aufgrund objektiver Gefahren zweimal abgebrochen. In dieser Höhenlage kann es selbst im Hochsommer nicht nur empfindlich kalt, sondern besonders nord- und westseitig bis weit in den Tag hinein feucht sein, was zwischen nassem Steilgras besonders die typischen Plattenlagen manchmal so gut wie unpassierbar macht. Fürs Warten aufs Auftrocknen oder akribisches Sichern ist der Grat als Tagestour jedoch zu lang. Ob es passt oder nicht, sieht man ohnehin recht bald, beispielsweise beim Abstieg vom ersten Degenhorn-Westgratturm oder vom ersten Südostgratturm der Weißen Spitze.
Die 16 Almhütten der Oberstalleralm – zweigeschoßige Blockbauten mit schindelgedeckten Satteldächern – werden heute überwiegend als Ferienhäuser genutzt, deren Gäste sich einer breit gefächerten Auswahl an Unternehmungen erfreuen können: von der einfachen Talwanderung mit überwältigender Vegetation über markierte Gipfelanstiege zu den höchsten Zinnen bis hin zu herben Klettergraten, deren Begehung doch einiges an alpiner Erfahrung voraussetzt. Unsere Überschreitung ist eindeutig in der dritten Kategorie angesiedelt, obwohl wir uns nicht zuletzt aufgrund der überraschenden Kälte am morgendlichen Fels drei der vier Degenhorn-Westgrattürme geschenkt haben.
Das eher gemütliche Degenhorn wird zu allen Jahreszeiten oft und gern bestiegen. Sein gezackter Westgrat stellt insofern eine Besonderheit dar, weil man ihn am besten von oben nach unten überkraxelt. Die Steilstufen brechen nämlich gegen den Gipfel hin ab, während die westseitigen Turmabdachungen gegen die Östl. Storfenscharte im Allgemeinen flacher und einfacher zu begehen sind. Überraschung gleich am ersten Turm: Während die lt. Führer brüchigen Vorzacken gar nicht so schlimm sind, erweist sich die plattige Flanke in die nächste Scharte hinunter als sehr unangenehm; mangels verlässlicher Griffe und Tritte schaffen wir uns mit klammen Fingern durch Losbrechen kleinerer und größerer, von feinem Wurzelgeflecht unterwanderter Platten schmale, erdige Leisten als Haltepunkte. Nach dieser frostigen und zeitraubenden Aktion verzichten wir gern auf die drei folgenden Aufbauten.
Die selten bestiegene Storfenspitze gibt sich da schon moderater, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit sind am steilen Ostgrat ab Östl. Storfenscharte dennoch obligat. Fluchtmöglichkeit vom Westgrat („fast Gehgelände“!): vor dem letzten kleinen Aufschwung links über die Flanke und den folgenden Durchschlupf am rechten Wandfuß entlang in die breite Rasenrinne, welche zum „Garten“ hinabzieht. Diese grüne Rinne ist von unten nicht gut einsehbar, aber auch in Gegenrichtung, zu ihrem oberen Ende in der Westl. Storfenscharte hindernislos zu begehen. Hier beginnt der lange SO-Grat der Weißen Spitze, gespickt mit vielen mehr oder weniger hohen oder brüchigen Türmen und Zackenreihen. Nach einem gemütlicheren Teil ist an einer Steilstufe am Gipfelaufschwung richtige Kletterei gefordert (III+). Vom höchsten Villgratner ein markierter Steig hinunter in die Schlötterlenke (Normalweg), von dort wieder weglos und leichte Kletterei auf die Rote Spitze, wo man auf deren bezeichneten und teilweise versicherten Normalweg zur Wangeslenke trifft.
Es folgt die wesentlich einfachere Etappe von der Wangeslenke bis ins Gsieser Törl.
Literatur: Poleschinski: Villgratner Berge - Deferegger Alpen. Gebietsführer für Bergsteiger, Kletterer und Wanderer. Bad Ischl: Poleschinski 2016, ISBN 978-3-200-04464-7.