Rotschirr, NW-Pfeiler und NW-Wand
Die Wiederbelebung der NW-Pfeilerkante und drei neue Topverschneidungen - Wasserspiele, Damokles und Poseidons Tagebuch.
Totes Gebirge, Grünau im Almtal, Oberösterreich. Zustieg 750 Hm + 650 m Wandhöhe (+250 Hm zum Gipfel).
Nach Fertigstellung von Schlossgespenst am Schermberg sind wir 2001 in die benachbarte Röll übersiedelt und haben dort gleichzeitig mehrere Projekte aufgegriffen, 4 davon am NW-Pfeiler bzw. in der NW-Wand des Rotgschirr.
Nur eine Handvoll Erschließer haben vor allem in den 30er-, 40er- und 60er-Jahren ihre Spuren in den gewaltigen alpinen Wänden der Almtaler Sonnenuhr hinterlassen, ihren Leistungen gilt auch heute noch unser voller Respekt. In Patagonien oder auf Baffin Island ist die Routendichte ungleich höher als hier, eine gute Autostunde von Linz oder Salzburg entfernt. Diese besonderen Umstände erkennen wir als Privileg: In einer der schönsten Gegenden der Erde zu leben, sich nach allen Seiten noch frei verwirklichen zu können und weder im Elend der Dritten Welt noch im Konsumzwang der nördlichen Eliten versinken zu müssen.
Auch über Aktivtäten in der Rotgschirr NW-Wand war bislang kaum etwas bekannt, und so freuen wir uns umso mehr, euch gleich mehrere Routen in dieser großartigen vertikalen Welt vorstellen zu können. Der Zustieg ist im Vergleich zu manch anderem Vorhaben in der Röll durchaus zumutbar, trotz beeindruckender Wandhöhe ist die Felsqualität meist sehr gut, in den Verschneidungen sogar durchwegs ausgezeichnet. Auch die landschaftlichen Eindrücke brauchen keinen Vergleich zu scheuen.
Am bestechenden NW-Pfeiler (27 SL) ist der neue Baseclimb Odysseus (10 SL) komplett eingerichtet, die untersten 7 SL der daran anschließenden klassischen Pfeilerkante wurden bis auf geklebte Standhaken im ursprünglichen Zustand belassen, die (begradigte) Gipfelwand ist wieder saniert.
Die Wasserspiele dienen als Zustieg für Damokles und Poseidon, 11 genussvolle SL bis maximal 4+ durch die marmorglatt gescheuerten Plattenformationen der flacheren Basisverschneidung. Die headwall oberhalb des 80-m-Schuttbandes steilt sodann entschieden auf:
Damokles zieht als logische Fortführung in zwei fantastischen Verschneidungsfolgen zum weit herausragenden, ambossartigen Schwert am etwa 2000 m hoch gelegenen Plateaurand hinauf. Die untere Reihe ist mosaikartig mit kleinen Dächern gespickt, die obere besticht durch ihre klare Morphologie, beide bieten wirklich außergewöhnlichen Fels.
2008 teilte uns Herbert Hackl aus Grünau mit, dass er zusammen mit Hansi Drack bereits in den 90er-Jahren den Bereich Damokles mit bescheidensten Sicherungsmitteln durchstiegen hat. Herzlicher Glückwunsch den Pionieren in dieser großartigen Wand!
2016 ist ein Stück des Buchstand-Daches weggebrochen; ein genauer Report über die Auswirkungen im betreffenden Beitrag.
Gut 100 m weiter westlich öffnet sich Poseidons Tagebuch, etwas kürzer als Damokles, auch etwas härter eingebohrt. Drei der insgesamt acht Seillängen präsentieren sich mit mäßigem Schrofenanteil, dafür werdet ihr manche Einzelpassagen vielleicht noch bizarrer finden als jene aus dem Überraschungskatalog nebenan.
Von der Poseidonterrasse am Fuß des Tagebuchs hat Ulli übrigens erstmals die Ostwand des Zwölferkogels erspäht. Diese einzigartige Plattentafel inspirierte sie sogleich zur Einweihung eines Tanzboden über dem Grieskar (geeignet auch für ältere Semester, denen ja schon seit geraumer Zeit ihre besondere Hinwendung gilt).
Zurück zum Rotgschirr: Wie die Routennamen schon andeuten, sollte man nicht unbedingt nach stärkeren Regenfällen einsteigen, da sonst die Freude über den unendlichen, vom Wasser gezauberten Formenreichtum leicht den Bach runter geht. Der viel begangene und jüngst etwas sanierte Sepp Huber Steig ist nicht weit, ein markierter Fluchtweg mit zwei eingerichteten Abseilstellen erlaubt ein Ausqueren aus den Wasserspielen zum Steig. Die beste Fährte von den Ausstiegen über das hier extrem zerklüftete Plateau zum Röllsattel ist mit roten Punkten und Steinmännern versehen. Dennoch ist die Wand insgesamt recht abgelegen und die Dimensionen des Berges sind für zwei Arme und Beine durchaus tagesfüllend.
Zustieg: Almsee - Sepp Huber Steig über die erste Leiternreihe hinaus. Bald danach betreten wir den Hochwald, rechts umgestürzter, geschälter Baum. Bei der dritten Wegbiegungen Baum mit Markierung und auffälliger, runder Rindennarbe. Hier links vom Weg ab und möglichst horizontal nach O, bald auf Wildfährten leicht absteigend um den Fuß des steilen Sporns. Gleich dahinter über steiles Gras und Schutt weglos hinauf, nicht zu weit links in die Latschen. Das Gelände verflacht sich, ein Gämsensteig führt links zum Geröllfeld am Wandfuß, wo sich oft mehrere Sommer hindurch beträchtliche Schneemassen halten können. 2.5 - 3 h vom Almsee.
Vom 8. Stand der Wasserspiele führt ein markierter, aber nicht ganz einfacher Fluchtweg aus der Wand zum Sepp Huber Steig: auf Band waagrecht durch die Wandbucht, leicht aufwärts nach W queren ins kleine Schuttkar (hier links oben die 25-m-Abseilstelle vom Ende der Wasserspiele). Weiter rechts aufwärts um die Kante, kurz waagrecht (Gras, Latschen, von hier gerade hinauf zum Poseidon-Einstieg möglich) und vom Rand kurz und glatt (Henkel, 3-) auf die breite Schutt- und Plattenflanke hinunter. Diese leicht abwärts überqueren (zweimal kurze Plattenrinnen abwärts, auf die roten Punkte achten), nach schönem Plattenband kurz hinauf. Das latschen- und felsdurchsetzte Wiesengelände (Steigspuren, Steinmänner) horizontal weiter nach W, zuletzt unmittelbar am Fuß einer niedrigen Felswand entlang. Vor dem Abbruch ins Ahornkar 20 m rechts schrofig und steil hinunter und orogr. links aus den Latschen ums Eck zu winziger Sanduhr. Am BH 27 m ins Kar abseilen, den Schuttstrom queren und durch die grasige Mulde zum Sepp Huber Steig hinauf, den man bei den grünen Böden oberhalb der letzten Leiter erreicht (ca. 1 h).
Der Fluchtweg lässt sich natürlich auch in Gegenrichtung begehen, etwa als direkter Zustieg von der Pühringer Hütte zu Poseidon und Damokles: Von einem deutlichen grünen Band, etwas unterhalb der Abseilstelle, erreicht man über eine kurze, abdrängende Stufe (3) und um ein Eck die gut begehbare Plattenzone unterhalb der „Querung am Fuß der niedrigen Felswand“.
Für den Abstieg von den Ausstiegen unserer Touren zum Röllsattel sind ca. 45 bis 60 Minuten zu veranschlagen, rote Punkte und Steinmänner helfen die beste Linie durch das bemerkenswerte Karrenlabyrinth zu finden.
Die Abseilpiste vom NW-Pfeiler-Kantenfuß über den Abbruch des Ahornkares in den Talschluss hinunter war als Option für Notfälle gedacht. Sie ist schwer auffindbar und wir nehmen von einer näheren Beschreibung Abstand. Der hinterste Kessel der Röll mit seiner Wildfütterung ist ein Kleinod für die Jägerschaft, schließlich soll auch sie ihre Freude an diesem Gebirge haben.
(2008)